Jean Perret, Sie gründeten 1995 das seit 1969 bestehende Dokumentarfilmfestival Nyon unter dem Namen Visions du Réel neu. Wie kam es dazu? Jean Perret: Als ich Anfang 1995 für das Festival angestellt wurde, existierte es real nicht mehr, es war aufs Eis gelegt. Was heisst das? Das Festival bekam keine Bundessubventionen mehr, es hatte 1994 gar nicht mehr stattgefunden, in seiner letzten Ausgabe, 1993, hatte es kaum mehr Publikum gehabt. Die Situation war happig, wir mussten in einem praktisch leeren Büro anfangen, es gab beispielsweise nicht mal «Ein Film muss immer auch von einer Vision, von einer Handschrift, getragen werden» Jean Perret mehr eine Kartei – kurz: es war der richtige Moment für einen Neuanfang und eine Neuerfindung. Zudem hatte das Festival bis da immer im Oktober stattgefunden, während der Herbstferien, ein total ungeeigneter Zeitpunkt. In meiner ersten Ausgabe, 1995, fand es dann nochmals zu jenem Zeitpunkt statt. Die nächste Ausgabe, 1996, startete dann aber im April, so wie heute. Dieser Wechsel von zwei Festivalausgaben innerhalb von nur einem halben Jahr bedeutete eine ziemliche Kraftanstrengung, aber es hatte sich gelohnt. Wie kamen Sie auf den Begriff: Visions du Réel? Mir kam meine Erfahrung vom Filmfestival Locarno zugute, ich hatte 1990, damals noch in meiner Funktion als Präsident des Filmjournalistenverbandes, die Semaine de la critique gegründet. In dieser - heute noch existierenden - Sektion hatten wir ausschliesslich Dokumentarfilme gezeigt. Ich fand aber nach jenen fünf Jahren, der Dokumentarfilm müsse in einem breiteren Sinn verstanden werden, in einem Dialog mit dem Spielfilm stehen. Deshalb galt für das Festival von Nyon: neuer Name, neue Identität, neuer Titel. Réel und Visions hiess für uns: Die Filmemacher, die hier auftreten, haben dreckige Schuhe, weil sie draussen auf dem Feld, in der Realität, gewesen sind und die Welt entdeckt haben. Diese Erfahrung macht aber nur Sinn, wenn sie durch eine Vision getragen, als Realität eine Interpretation des Realen ist. Ausserdem wollten wir weg vom Begriff des Dokumentarfilms als einer journalistischen Form, die die Wahrheit sieht. Vielmehr fanden wir, dass der Dokumentarfilm eine Form der Filmkunst, und kein Minderheitsgenre, ist. Sie sprachen damals, in den ersten Jahren Ihrer Leitung, auch wiederholt von der Krise des Spielfilms... Ja, genau; der Spielfilm befand sich meiner Meinung nach ab Ende der 1980er Jahr in der Situation, dass alle Geschichten schon einmal erzählt worden waren. Es gab zwar ein paar interessante, neue Spielfilmregisseure wie etwa Abbas Kiarostami oder Bela Tarr, aber es war damals, am Ende des 20. Jahrhunderts, doch mehrheitlich das Cinéma du Réel, das