Es wird den Zuschauer*innen wenig Zeit gelassen, ins Universum des schwer dementen Anthony einzutreten. Der kurze Weg REZENSION MADELEINE HIRSIGER durch ein grossbürgerliches Quartier von London, den seine Tochter Anne zurücklegt, um die Wohnung ihres Vaters zu betreten, muss ausreichen. Währenddessen ertönt auf der Tonspur barocke Musik. Sie endet mit dem Ablegen der Kopfhörer von Anthony. «Dad, it’s me!» – und er ganz verwundert: «What are you doing here?» Jetzt ist man mit einem Schlag mittendrin in einer Welt voller Verwirrung. Anthonys Uhr kommt ins Spiel. Einmal mehr wurde sie ihm gestohlen, einmal mehr taucht sie kurz darauf wieder auf. Ein Motiv, das sich wie ein roter Faden durch das Labyrinth, in dem sich Anthony befindet, durchzieht: Die abhandengekommene Zeit. Auf den ersten Blick ist alles klar: Anthony muss von einer neuen Pflegerin betreut werden. Die frühere hat er rausgeschmissen – mit harschen, verletzenden Worten. «Ich brauche keine Hilfe!». Anne weiss, dass dem nicht so ist. Sie kümmert sich darum. Allmählich wird uns als Kinobesucher bewusst, dass wir keine Ahnung haben, wo wir wirklich sind: bei Anthony zu Hause, bei Anne in der Wohnung? Ist Anthony vielleicht doch der Mann von Anne? Ist sie überhaupt verheiratet oder geschieden, plant sie wirklich nach Paris auszuwandern? «Was willst Du dort, die sprechen ja nicht einmal Englisch». Wir sind im Kopf von Anthony gefangen – und das ist die ganz grosse Leistung von «The Father». Es gibt zwar die Aussenansicht eines verwirrten Menschen, der helle Momente hat, aber als Zuschauer*in kann man sich an nichts halten. Anne wird Laura, Laura wird Anne. Warum gibt es letztere zwei Mal und wer ist eigentlich Paul? Nur eine Figur wird durch die ganze Geschichte klar gesetzt: Anthonys zweite Tochter Lucy. Er vermisst sie schmerzlich. Schon so lange hat sie ihren Vater nicht mehr besucht. Lucy soll tot sein, aber daran kann er sich nicht erinnern. Anne wird hemmungslos gegen ihre Schwester ausgespielt: Lucy ist smart, schön und begabt. Anne hingegen «nicht sehr intelligent». Jetzt will sie ihrem Vater auch noch die Wohnung wegnehmen. Nur darum soll er in ein Heim abgeschoben werden. Für Anne ist das alles schmerzvoll. Sie ist hin- und hergerissen zwischen Selbstaufgabe, Pflichtgefühl und Empathie. Die Situation belastet stark ihre Beziehung (welche Beziehung und mit wem?). Die grosse Verzweiflung – auf beiden Seiten – wird immer wieder spürbar. Wie passt das alles zusammen? Erst ganz am Ende des Films wird das Puzzle vervollständigt und alles bekommt seinen Sinn. Der erfolgreiche Schriftsteller und Regisseur Florian Zeller hatte die Güte, uns den Ausgang aus dem Verwirrspiel zu weisen. Es ist wie eine Erlösung. Der 42-jährige Franzose hat zusammen mit Christopher Hampton das grosse Thema «Demenz» mit Überzeugung und Respekt verfilmt. Als Grundlage dient sein Stück «Le père», das bereits 2012 uraufgeführt wurde. Die beiden Oscar-preisgekrönten Protagonisten Anthony Hopkins und Olivia Colman ziehen mit einer Selbstverständlichkeit sämtliche Register ihres Könnens. Sie und der Regisseur machen den Film zu dem, was er ist: ein grossartiges, gescheites und beklemmendes Werk über eine Krankheit, die viele Angehörige an den Rand der Verzweiflung bringen kann.