Gisela Widmer, in Ihrer Groteske wird auch das Drama der Bootsflüchtlinge im Mittelmeer thematisiert. Wann haben Sie «Seegang» denn geschrieben? Vor ein paar Wochen? Zum Glück vor einem Jahr. Sonst hätte ich mich in allzu viele politische Argumente verstrickt. Aber es brauchte auch damals nicht viel Fantasie um sich vorzustellen, wie im Mittelmeer jeden Tag Dutzende dieser Hochluxus-Kreuzfahrtschiffe an den lotterigen Flüchtlingsbooten vorbeibrausen. In „Seegang“ prallen die zwei Welten aufeinander, aber sie begegnen sich nicht: Der Kapitän überfährt die Boote. Ist dies die berühmte «schlimmstmögliche Wendung», von der Dürrenmatt gesprochen hat? Das ist tatsächlich schlimm, aber die schlimmstmögliche Wendung kommt bei mir am Schluss und dies in ausgesprochen sanfter Form: Der Kapitän – er verkörpert die Politik – kann seine Passagiere davon überzeugen, dass der Zusammenprall nichts als eine kollektive Projektion der eigenen Ängste gewesen sei, eine Illusion also. Und er führt dann alle Passagiere in ihr ganz privates und ganz kleines Glück und zaubert eine Wohlfühlwelt herbei. Schliesslich übergibt der Kapitän die Fernsteuerung des Schiffes und auch die Fernsteuerung der Passagiere an seinen mitreisenden Schwiegervater, der den globalisierten Kapitalismus verkörpert. Das klingt jetzt ziemlich kopflastig. Ist es aber nicht. «Seegang» ist und bleibt eine Groteske, furchtbar komisch eben. Das Tragische lauert bekanntlich im Lustigen. Es gibt viel zu lachen. Was auch mit der Regie von Barbara Schlumpf, dem Spiel, der Musik und den Kostümen zu tun hat: Es gelingt wirklich allen Beteiligten, diese durchgeknallte Konsum- und Spassgesellschaft überhöht abzubilden, ohne aber moralisierend zu werden. Und das Publikum spielt mit? Die Theatergruppe Chärnehus Einsiedeln ist ja bekannt für anspruchsvolles Theater und hat auch ein Publikum, das sich auf anspruchsvolles Theater einlässt. Nun mussten sogar Zusatzvorstellungen anberaumt werden. Offenbar treffen wir mit „Seegang“ einen Nerv. Chärnehus Einsiedeln SZ | Seegang | von Gisela Widmer | Theatergruppe Chärnehus | Regie: Barbara Schlumpf | Uraufführung im Chärnehus Einsiedeln | bis 20. Juni 2015 » Chärnehus Einsiedeln